бункеры и Дворцы
Bunker und Paläste​​​​​​​

Ein gigantisches System aus Tunneln, Schächten, Bunkern und Palästen unter einer noch viel gigantischeren Stadt; der -Moskauer -Untergrund bildet eine geheimnisvolle Parallel-Welt zwischen Kriegshinterlassenschaften und einem riesigen Metro-System.
Veröffentlicht: 
Juli 2019

Erschienen in: 
Touristen im Regen
Die meisten sind schon mal in Berlin U-Bahn gefahren. Oder in Köln. Oder in irgendeiner anderen deutschen Stadt; graue, kahle Beton-Wände oder Siebziger-Jahre-Fliesen in Senf-Gelb, Schmuddel-Weiß und Krankenhauskittel-Türkis sind die Regel. Mal haben die Stationen einen schönen Retro-Charme, mal sind sie einfach nur ungemütlich.
Die meisten waren auch schon in einem Museum oder Theatergebäude im klassizistischen Baustil – mit Torbögen, Marmorböden und reichlich Stuck an der Decke; imposant und edel, vielleicht auch ein wenig einschüchternd.
Und nun ein kleines Gedankenexperiment: man stelle sich den Grundaufbau einer U-Bahnstation vor und verschmelze ihn dann mit der Optik solch eines klassizistischen Theaters oder Museums und schwupps – steht man in der Moskauer Metro.

Als Stalin in den 1930er Jahren die Metro erbauen ließ, beauftragte er die besten Architekten und Künstler mit der Gestaltung der Stationen. Zwar inspiriert durch die Pariser und Berliner Metro, sollte die Moskauer Metro jedoch besonders durch ihre Schönheit beeindrucken. Und das gelang: Malereien und Mosaike erstrecken sich an den Decken über marmorverkleideten Säulen, eingerahmt von goldenem Stuck und bewacht durch eiserne Statuen. Noch heute gilt die Moskauer U-Bahn als die schönste der Welt. Vierundvierzig ihrer Stationen wurden zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt.

Doch wer diese unterirdischen Paläste besuchen möchte, muss zunächst eine kleine Reise in die Unterwelt antreten, denn die Stationen liegen bis zu 65 Metern unter der Stadt. Dementsprechend sind die Rolltreppen hier nämlich an die hundert Meter lang und eine Fahrt dauert bis zu 2 Minuten – und das, obwohl die Rolltreppen fast doppelt so schnell laufen, wie unsere in der EU, welche zugegebenermaßen mit ihren 3,2 km/h echte Schnecken sind.
Bei solch langen und vor allem auch steilen Strecken fällt jedenfalls der kurze Sprint zum Anschluss-Zug flach. Allerdings ist das in der Moskauer Metro überhaupt nicht tragisch, denn sie gilt nicht nur als schönste, sondern auch als einer der schnellsten, pünktlichsten und sichersten U-Bahnen der Welt. Präzise wie ein Uhrwerk fährt alle neunzig Sekunden im irren Tempo eine Bahn in die Station ein, hält maximal dreißig Sekunden, und fährt dann genauso flott wieder ab. Doch das ist auch nötig, denn an Wochentagen nutzen etwa neun Millionen Menschen die Metro. Zum Vergleich: das sind etwa dreißig Mal alle Einwohner Münsters, oder drei Mal ganz Berlin.
Das Tunnelsystem der Metro hat zudem insgesamt achtzehn Stockwerke und jede der zwölf Linien fährt auf einer eigenen Ebene mit eigenen Stationen, wodurch fehleranfällige Weichen-Systeme überflüssig sind. Gibt es auf einer Linie also eine Störung, sind alle anderen Linien nicht davon betroffen.
Und das Beste: eine Fahrt kostet umgerechnet etwa siebzig Cent - egal wie lange man fährt und wie oft man umsteigt. Der Preis-Vergleich zu deutschen Öffis an dieser Stelle täte nur weh.
Zudem ist das U-Bahnnetz in ständigem Ausbau. Als die Moskauer Metro 1935 eröffnet wurde, fuhr die erste Linie auf einer 11 Kilometer langen Strecke mit 13 Stationen. Heute hat das Streckennetz 212 Stationen, welche über 365 km Schienen miteinander verbunden sind, Tendenz steigend: Bis 2030 soll es auf rund 480 km Länge ausgebaut und um 70 Stationen erweitert werden.
Damit dieses komplexe System rund laufen kann, stehen die Züge und Stationen unter ständiger Beobachtung von der Zentrale im Herzen der Stadt, damit auf Probleme oder auch nur minimale Verspätungen sofort regiert werden kann. Und auch die Fahrer und Fahrerinnen unterliegen einer Kontrolle, die so streng ist wie sonst nirgends. Sie müssen sich vor Schicht-Antritt einer medizinischen Begutachtung unterziehen, Auskunft über Beschwerden und die Dauer der Pause geben und auch einmal pusten. Tatsächlich gab es in den letzten achtzig Betriebsjahren auch keine vom Fahrer verschuldeten Unfälle.​​​​​​​
Die Moskauer Metro diente jedoch nicht immer nur dem Transport-Zweck. Die meisten der Stationen sind mit dicken Stahltüren versehen und lassen sich so bei - hoffentlich nie wieder eintretendem - Bedarf zu Bunkern umfunktionieren, was sich auf den zweiten Weltkrieg zurückführen lässt. Denn da die Stationen so tief unter der Erde liegen, waren sie damals der sicherste Ort der Stadt. Während der Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe 1941/42 fanden dort rund 500.000 Menschen Schutz. Es gab Filmvorführungen, Konzerte, Krankenlager und geschätzte 150 Kinder kamen in den tiefen der Metro auf die Welt. Doch auch heute noch werden solche Bunker-Türen in den neuen Stationen eingebaut und regelmäßig gewartet.
Abgesehen davon verstecken sich in dem unterirdischen Stahl-Beton-Labyrinth weitere Zeugen der Kriegs-Zeit: alte Telefonanlagen, Bunker und Checkpoints, in welchen noch heute Militäruniformen lagern und Gasmasken von kahlen Decken baumeln. Nur einer der vierzig öffentlich bekannten Bunker, der „Stalin-Bunker“, ist für Besucher zugänglich. Doch wie es sich für Verbote und Geheimisse gehört, wecken sie Neugier. Und durch diese Neugier hat sich eine Art Volkssport oder zumindest eine wachsende Szene von Hobby-Archäologen etabliert. Die sogenannten Digger (vom englischen „to dig“, graben) steigen durch Gullys und Abwasserrohre in das ausgedehnte Netz aus Wartungsgängen, Tunnel und der Kanalisation unter der Erde ab. Sie suchen nach verlassenen Metro-Stationen, Militärbunkern und unbekannten Wegen. Doch auch Mythen über die sagenumwobene U-Bahnlinie „Metro-2“, die verschollene Bibliothek Iwan des Schrecklichen und eine unterirdischen Stadt, welche im Falle eines Atom-Krieges Platz für 15.000 Menschen böte, spornen immer wieder den Entdecker-Geist in den Menschen an.
Insbesondere der Glaube an die „Metro-2“, welche als Begriff durch den Schriftsteller Wladimir Ganik geprägt wurde, hält sich hartnäckig. Er war der festen Überzeugung, dass beim Bau der ersten Metro durch Stalin auch streng geheime Linien entstanden, welche allein der Sowjetführung vorbehalten waren. Jedoch gab es dazu nie offizielle Hinweise. Allein der ehemalige Viezepremier Michail Paltoranin soll die Existenz eines Tunnelsystems mit Reservekommandozentralen für den Kriegsfall bestätigt haben. Und auch Dmitri Gajew, ein langjähriger Chef der Metro, sagte, es überrasche ihn, wenn es einen solchen geheimen Tunnel nicht gäbe.
Wie viel Wahrheit jedoch tatsächlich an all diesen Geschichten und Spekulationen ist, lässt sich nicht beantworten und vermutlich werden auch nie all die Geheimnisse, welche sich zwischen prunkvollen Stationen und muffigen Abwasserkanälen verbergen, das Tageslicht erblicken. Doch gerade das macht auch den geheimnisvollen Charme der Moskauer Metro aus.
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