Gespräch mit einem Cyobrg​​​​​​​

Farben hören, Wetterveränderungen vorhersagen, seismische Bewegungen spüren. Sinneswahrnehmungen wie diese sind dem Menschen vorenthalten – eigentlich.
Eine Gruppe junger Visionäre ermöglicht jedoch genau dies durch technische Sinnesorgane. Sie machen Science-Fiction zur Realität, fordern damit unser Wertesystem heraus und werfen Fragen auf.
Darf sich der Mensch durch Technik verändern? Wohin führt das? Und ist vielleicht nicht der technische Fortschritt das, was uns Sorge bereiten sollte – sondern unsere Gesellschaft?
Veröffentlicht: 
Februar 2019

Erschienen in: 
027R Rhizom Magazin
Mayhap Magazine - A Tribute To Utopia 
Es ist Dienstag, kurz nach sechs Uhr abends und bereits dunkel. Die engen Straßen des Wohnviertels Raval sind laut und belebt. Zwar ist es bereits November, trotzdem sind die Temperaturen niedriger, als von Barcelona erwartet.
Ein junger Mann tritt auf den Plaça del Pedró und schaut sich suchend um. Er hat die Hände tief in den Taschen der schwarzen Daunenjacke vergraben. Zwischen dem hohen Kragen und dem dunklen, fast schwarzen Haar blitzen silberne Kreolen-Ohrringe im Neonlicht der kleinen Geschäfte am Rande des Platzes auf. Er steuert auf den Treffpunkt, einen kleinen, steinernen Brunnen in der Mitte des Platzes, zu. Die ungelenke Begrüßung ist von etwas Unsicherheit, aber vor allem Neugierde begleitet. Ihm ist die Gegend vertraut und so schlägt er eines dieser typischen Straßencafés mit roter Markise und knatschenden, silbernen Metallstühlen an der Ecke eines Häuserblocks wenige Straßen weiter vor. Eine Insel umringt von geschäftigem Treiben. Kleine Transporter hupen die drängelnden Motorroller an, jemand führt lautstark eine emotionale Diskussion und in der Ferne heult eine Sirene der Guardia Civil.
Der Gesprächseinstieg fällt leicht und die zunächst undurchschaubare Miene des Gegenübers löst sich schnell in einen fröhlichen und offenherzigen Ausdruck auf. Doch blitzt immer wieder der Eindruck auf, dass dieser Mann etwas Geheimnisvolles, Faszinierendes, jedoch nicht richtig Fassbares in sich trägt.

Manel Muñoz ist ein 22-jähriger, katalanischer Künstler, der zunächst zeitgenössische Fotografie studierte und sich nun mit Wahrnehmung, genauer gesagt dem Gestalten seiner eigenen Wahrnehmung, befasst. Er hebt mit seiner Kunst die Grenze zwischen Künstler, Kunstwerk und Rezipienten auf, denn er selber ist alles drei zugleich. Der Definition des Begriffs nach ist Manel Muñoz ein Cyborg.
An seinem Nacken, kurz unterhalb des Haaransatzes, trägt er einen zusätzlichen, technisch entwickelten Sinn: ein kleines Chaos aus metallischen Teilen, Plättchen, Klammern und bunten Kabeln, durch welches er die Veränderung des Luftdrucks um ihn herum wahrnehmen kann.
„Ich habe hier einen Motor und einen zweiten hier.“ Er dreht sich halb um und tippt auf die rechte und linke Hälfte des kleinen Gerätes. „Diese Motoren senden technisch modulierte Vibrationen, vergleichbar mit einem Puls oder einem Beat, in verschiedenen Geschwindigkeiten, abhängig von der Intensität des Wetters“, erklärt er. „Hier“ – sein Finger fährt an einem Kabel entlang, das von dem Motor zu einem Sensor oberhalb seiner linken Ohrmuschel führt – „fühle ich das unbeständige, sich schnell verändernde Wetter. Also wenn es regnet, stürmt und der Luftdruck niedrig ist. Und auf der anderen Seite“ – er tippt sich an die rechte Schläfe – „spüre ich, wenn das Wetter stabil ist und der Luftdruck hoch.“ Das Gespräch wird kurz unterbrochen, als ein Kellner an den Tisch tritt und die Bestellung aufnimmt. „Ein Barometer im Grunde“, fügt Manel seiner Erklärung abschließend hinzu.​​​​​​​
Bei dem Wort Cyborg schmeißt das Kopfkino in der Regel direkt Ex Machina oder Blade Runner an, mit künstlicher Intelligenz oder Robotern hat der Begriff aber tatsächlich wenig zu tun. Die Kurzform von Cybernetic Organism beschreibt lediglich die dauerhafte Ergänzung des menschlichen Körpers durch künstliche Bauteile. Der erste Cyborg war somit Arne Larsson, dem Ärzte 1958 den ersten Herzschrittmacher implantierten. Mittlerweile sind Prothesen, Hörhilfen und Insulinpumpen völlig normal. In manchen Betrachtungsweisen wird sogar unsere ständige Abhängigkeit von Smartphone, Laptop oder Autos miteingeschlossen.
In Kontakt mit dem Cyborgismus kam Manel, als ihm ein Freund auf einer Party Neil Harbisson vorstellte. Neil Harbisson ist der erste von einer Regierung offiziell anerkannte Cyborg. Der farbenblind geborene Künstler und Aktivist hat seit vielen Jahren eine am Schädel implantierte Antenne, die ihm die Wellen des Lichtspektrums von Ultraviolett bis Infrarot in Töne übersetzt. Er hört also Farben, quasi eine technisch entwickelte Synästhesie.
Dessen Kindheitsfreundin Moon Ribas begann während ihres Tanz-Studiums ebenfalls mit technischen Elementen zu arbeiten und kann momentan über Sensoren an ihren Füßen die seismischen Bewegungen unserer Erde wahrnehmen, welche sie in Tanz und Performance Art übersetzt.
Zusammen gründeten Neil und Moon 2010 die Cyborg Foundation, die Menschen bei ihrem Wunsch, Cyborg zu werden, unterstützt, deren Rechte vertritt und außerdem Cyborg Art fördert.
„Mein Interesse daran, Biologisches und Technisches miteinander zu vermischen, entstand intuitiv, als ich mich noch hauptsächlich mit Fotografie beschäftigte.“ Auf Manels Website ist eine Fotografie von Fäusten zu sehen, die gen Himmel gereckt werden, daneben Säulen, die in die gleiche Richtung streben. Die Parallelen zwischen der Architektur des menschlichen Körpers und der vom Menschen geschaffenen Architektur sind unverkennbar. „Irgendwann begann ich zu Hause Skulpturen aus Blumen und metallischen Elementen zu bauen und diese zu fotografieren. Als ich dann Neil in dem Club kennen lernte, fragte ich, ob ich Fotos von ihm machen dürfe. So lernte ich auch Moon kennen und begleitete die beiden einige Wochen. Während des Projektes bekam ich Lust, weitere Cyborgs und den Entwicklungsprozess neuer Sinne fotografisch zu dokumentieren, aber es gab einfach keine!“, erzählt er lachend. Der Kellner stellt zwei café con leche auf den Tisch und Manel versenkt eine Zuckerpackung in der kleinen Tasse, während er weiterspricht. „So entstand die Idee, einfach selber zu dem zu werden, was ich fotografieren wollte.“
Neil und Moon boten ihm eine artistic residency in der Cyborg Foundation an, also einen Aufenthalt in den Räumlichkeiten der Organisation, um im Austausch mit anderen Künstlern, Technikern und Designern über den Sommer hinweg an seinem eigenen, neuen Sinn zu arbeiten.

„Ich hatte irgendwie schon immer eine Verbindung zum Wetter. Vor allem bei Regen habe ich mich besonders wohlgefühlt, wie mit einem guten Freund. Dieses Gefühl ist einfach ein Teil meiner Identität, deshalb kam ganz natürlich die Idee auf, ein Sinnesorgan und eine Wahrnehmung zu entwickeln, welche mit diesem Phänomen verbunden sind.“
Das Entwickeln eines technischen Sinnes ist ein langer Prozess. Die Art der Signalübertragung muss entschieden werden, neben Vibrationen gibt es auch die Möglichkeit, beispielsweise Klang, Temperatur oder elektrische Impulse zu nutzen. Diese Signale müssen entworfen, das Ganze muss technisch umgesetzt, immer wieder angepasst und auch in seiner optischen Form designt werden. Erst dann, nach monatelanger Arbeit, beginnt schließlich das Entstehen einer Wahrnehmung, indem die Bedeutungen der ankommenden Signale nach und nach erlernt und verstanden werden. „Und diesen ganzen Prozess nennen wir Cyborg Art: das Entwickeln einer Wahrnehmung durch das Hinzufügen neuer kybernetischer Sinnesorgane.“ Der kleine Silberlöffel klimpert am Porzellan, als Manel seinen Kaffee umrührt bevor, er wieder zum Sprechen ansetzt.
„Dies ist erst der zweite Prototyp, an dem dritten arbeite ich gerade. Die Entwicklung meines neuen Sinnes ist wie der Rest meines Körpers einer stetigen Weiterentwicklung ausgesetzt, was natürlich auch mit dem technischen Fortschritt und den daraus entstehenden Möglichkeiten zusammenhängt. Der neue Prototyp wird sich in der Form sehr verändern und soll an zwei Fischflossen erinnern.“ Manel hält sich die Hände mit gespreizten Fingern hinter die Ohrmuscheln. Er erinnert dabei ein bisschen an den griechischen Gott Hermes mit den kleinen Flügeln am Helm. „Der wird also sehr viel auffälliger als jetzt“, sagt er grinsend. „Die Flossen sollen 3-D-gedruckt werden und wie Haut und Knorpel anmuten. Innen drin wird sich die Technik befinden und ein Teil davon implantiert werden, so dass die Signale dieses Mal in Form von Klängen an den Schädelknochen weitergetragen und nur für mich selber hörbar werden. Durch das Zusammenspiel von Lautstärke, Ton und der Sättigung des Klanges werde ich Luftdruck, Temperatur und Luftfeuchtigkeit wahrnehmen können. Jeder Ort wird so seinen ganz eigenen Klang, jede Jahreszeit ein ganz eigenes Spektrum an Klängen besitzen. Meine ganz persönliche Version der ‚vier Jahreszeiten!‘“, schließt Manel seine Erklärung belustigt ab. Seine Begeisterung für dieses Thema weckt Faszination und wirkt ansteckend.
Als er weiterspricht, wird sein Gesicht ernster. „Für mich ist das wie das Kreieren meiner eigenen Spezies;“ er wird langsamer und sucht nach den passenden englischen Worten für das, was er erklären möchte: „Ich fühle mich nicht als ein Teil der menschlichen Spezies,“ beginnt er vorsichtig. „Klar, ich weiß, dass ich biologisch betrachtet ein Mensch bin, aber meine Identität fühlt sich nicht menschlich an. Aber was heißt schon ‚sich menschlich fühlen‘? Mir gefällt auch der Gedanke, dass wir alle unsere eigene kleine Spezies sind,“ überlegt er laut. „Ich jedenfalls habe das Gefühl, dass mir ohne diesen weiteren Sinn, ohne die Flossen, etwas fehlt und ich möchte meine Physiologie und Wahrnehmung dahingehend verändern, dass ich so aussehe, wie ich mich innerlich fühle. Das ist, was ich als ‚sich transpecies‘ zu fühlen, beschreibe.“
„It’s like I’m designing myself in a way that I’m more myself.”
Zusammen mit Neil Harbisson und Moon Ribas gründete Manel 2017 die Transpecies Society in Barcelona. Die Vereinigung möchte Personen, die sich als transpecies identifizieren, Raum und Stimme geben, die Möglichkeit, sich auszutauschen, neue Sinne und Organe zu entwickeln, und tritt außerdem für die Freiheit zur Gestaltung des eigenen Körpers ein. Das Sense Lab ist der Ort, an dem Künstler und Technikbegeisterte zusammenkommen und an neuen Möglichkeiten der Wahrnehmung arbeiten.
Er stützt die Unterarme auf dem wackeligen Tisch ab und spielt mit der leeren Zuckerverpackung. „Ich erzähle Leuten normalerweise nicht einfach aus dem Blauen heraus, dass ich mich nicht menschlich fühle.“ Er faltet sie klein zusammen und wieder auseinander.
„Die meisten von uns sehen Technologie als ein Mittel zum Zweck, als etwas, was immer einen Nutzen haben muss. Wenn also jemand fragt, wofür mein technischer Sinn ist, sage ich in der Regel ‚um den Luftdruck wahrzunehmen‘. Dann sind sie entweder begeistert oder irritiert und lassen das Thema fallen. Aber mir geht es hierbei nicht darum zu wissen, ob es später regnen wird. Für mich geht es darum, meine Wahrnehmung zu erweitern, um Selbstfindung, um etwas, das keinen Namen braucht und keinen Nutzen.“ Ein Krankenwagen kämpft sich mit laufender Sirene langsam durch den dichten Verkehr an der kleinen Straßenkreuzung und Manel macht eine kurze Pause.
„This is tech poetry in a way.”
„Manche Leute fühlen sich von meinem Projekt allerdings persönlich angegriffen und bedroht. Sie werfen mir vor, die Zukunft der menschlichen Spezies zu bestimmen, sie in die falsche Richtung zu lenken.“
Die Verbindung von Menschen und Technik ist in unserer Gesellschaft durch apokalyptische Zukunftsvisionen in Filmen und Science-Fiction-Büchern in der Regel negativ konnotiert und von der Philosophie der Trans- und Posthumanisten geprägt.
Im Transhumanismus (zusammengesetzt aus lateinisch trans ‚jenseits, über, hinaus‘ und humanus ‚menschlich‘) geht es darum, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen durch technologische Mittel zu verbessern und zu erweitern. Das Ziel ist, die Lebensqualität, Lebensdauer und Leistung zu verbessern, aber auch Einfluss auf das Aussehen und die physischen und psychischen Merkmale eines Menschen nehmen zu können. Darauf aufbauend geht der Posthumanismus noch einen Schritt weiter, indem er davon ausgeht, dass die biologische Menschheit den Gipfel ihrer Evolution bereits erreicht hat und der nächste Entwicklungsschritt in der Verbindung mit Technologie und in den Händen der künstlichen, computergestützten Intelligenz liegt.
Zwar wurde die menschliche Spezies durch die technischen und medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte bereits signifikant verändert, aber dennoch übergeht diese Philosophie fundamentale, ethische Fragen, obwohl ihre Ziele eine grundlegende Veränderung der menschlichen Natur und Gleichheit bedeuten würden.
Posthumanismus und Transhumanismus basieren also auf dem Gedanken, dass Körper und Geist der Menschen in ihrer jetzigen Form nicht gut genug und nicht zukunftsträchtig sind, weshalb man sie technisch verbessern müsse. Auf die Frage, ob sich die Transpecies Society mit diesen Denkrichtungen identifizieren kann, reagiert Manel sehr eindeutig. „Nein, überhaupt nicht. Uns geht es nicht darum, die menschlichen Fähigkeiten zu verbessern oder den Nicht-Cyborgs überlegen zu sein. Uns geht es um Selbstfindung und künstlerischen Selbstausdruck. Wir fühlen uns nicht besser oder schlechter“, betont er.​​​​​​​
„I am becoming a better experience of myself, but I am not better than I was before.”
Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, der mittlerweile längst kalt sein müsste.
„In der Transpecies Society kämpfen wir für das Recht, dass jeder die freie Entscheidung über die eigene Identität und den eigenen Körper hat. Viele Menschen haben Angst vor der gesellschaftlichen Ungleichheit, die durch technische Veränderungen entstehen könnte, weil man bei dem Wort Cyborg auch immer gleich die Visionen der Transhumanisten im Kopf hat. Aber wir alle haben unsere Zukunft in der Hand und ich hoffe auf eine Zukunft, in der jeder Person die Entscheidung darüber offensteht. Niemand muss ein Cyborg werden!“, fügt er lachend hinzu, dann wird er wieder ernst. „Im Gegenteil; es ist nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten, sich selber zu erkunden und der eigenen Identität zu folgen. Aber leider hat unsere Gesellschaft noch ein riesiges Problem mit Diversität, was zum Beispiel Rassismus, Homophobie oder Transphobie angeht. Ich sehe auch schon die Reaktionen der Menschen vor mir, wenn ich meine Flossen tragen werde: ‚what the fuck ist das denn für ein Monster?‘.“
Es wird deutlich, wie wichtig ihm neben der Ich-Erfahrung seines Projektes dieses gesellschaftliche Thema ist. Die Urteile, mit denen er dabei konfrontiert wird, scheinen ihn dabei jedoch nicht abzuschrecken, sondern nur noch mehr anzuspornen.
„Ich glaube, wir müssen uns darauf vorbereiten, dass in Zukunft noch eine viel größere Diversität auf uns zukommt. Und wenn ich als Vertreter dieser neuen Gruppe den Weg für andere ebnen, mehr Toleranz schaffen oder Menschen den Mut machen kann, ihrer Identität zu folgen, dann nehme ich die damit verbundenen Schwierigkeiten gerne in Kauf. Ich möchte den Leuten zeigen, dass sie die Freiheit haben, sie selber zu sein. Schließlich sind wir alle einzigartig und wenn wir das annehmen, gibt es uns vielleicht die Stärke, dafür zu kämpfen, das zu sein, was wir sein wollen.“​​​​​​​
“I want people to have in mind that they are free to be themselves and that they are free to be who they want to be.”
Noch scheint diese neue Bewegung zwar überhaupt nicht in unser Weltbild zu passen, mit unseren ethischen und gesellschaftlichen Normen zu kollidieren und viele kontroverse Fragen aufzuwerfen. Fragen, welche uns in Zukunft zunehmend beschäftigen werden. Doch im Gespräch mit dem jungen Künstler wird klar: Es geht ihm hierbei nicht um ein Upgrade des menschlichen Körpers oder Überlegenheit, sondern um das Entdecken und Zelebrieren der eigenen Identität. Um Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Um einen Wunsch nach Toleranz und Gleichheit. Und um eine Frage für jeden Einzelnen von uns: Wer bin ich, wenn ich sein darf, wer ich will?
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